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Seit November 2023 gab es zwei Mal den Fall, dass sich eine Person weigerte, am Ende einer Rettung durch SOS MEDITERRANEE von einem Boot in Seenot evakuiert zu werden. Die Person verließ stattdessen den Einsatzbereich, sobald alle anderen Personen an Bord unserer Schnellrettungsboote waren. Die Vorfälle ereigneten sich alle in demselben Seegebiet, den internationalen Gewässern in der libyschen Such- und Rettungsregion.

Im November 2023 startete die letzte verbleibende Person an Bord eines provisorischen Bootes nach der Evakuierung von 33 Personen von einem seeuntauglichen, überfüllten Boot in Seenot plötzlich den Motor und verließ den Einsatzbereich. Dies war in den über 350 von SOS MEDITERRANEE durchgeführten Rettungsaktionen das erste Mal, dass unser Team eine solche Situation erlebte. Etwa einen Monat später, Mitte Dezember, erlebte unser Team an Bord der Ocean Viking eine ähnliche Situation. Der Mann, der an Bord bleiben wollte, berichtete unserem Team auf dem Rettungsboot und einem unabhängigen Journalisten, dass er nach Libyen zurückkehren müsse, weil seine Frau dort gefangen gehalten werde. Die Informationen über diese Vorfälle wurden direkt an die zuständigen Behörden weitergegeben. SOS MEDITERRANEE ist in den internationalen Gewässern des zentralen Mittelmeers im Einsatz, um Menschen in Notlage in Übereinstimmung mit den internationalen Seerechtskonventionen zu retten. Das Seerecht legt spezifische Verpflichtungen fest, die nicht verletzt werden dürfen. Das Nichteinhalten der Pflichten ist ein Verstoß gegen das Gesetz. 

 

Warum sind maritime Such- und Rettungsmittel im zentralen Mittelmeer unerlässlich? 

Im Jahr 2023 starben und verschwanden nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mindestens 2.498 Frauen, Kinder und Männer im zentralen Mittelmeer, und dies sind nur die bekannten Todesfälle. Es ist die höchste Zahl von Todesfällen seit 2017. Die meisten dieser Todesfälle und Verschwinden ereigneten sich in der libyschen Such- und Rettungsregion, wo die Koordination von SAR-Maßnahmen nahezu nicht existiert und wo die libysche Küstenwache regelmäßig gefährlich und rechtswidrig handelt. 

Das tragische Schiffsunglück vom 16. Dezember, bei dem mindestens 61 Personen ums Leben kamen, ist ein trauriges Beispiel für den tödlichen Mangel an SAR-Kapazitäten in diesem Gebiet. Das Schiffsunglück ereignete sich, wie unzählige andere, von denen wir wissen und wahrscheinlich viele weitere, die nicht dokumentiert wurden, im selben Seegebiet. 

Darüber hinaus hat das Team an Bord der Ocean Viking Berichte von Überlebenden über gefährliche und restwidrige Abfang- und Rückführungsmaßnahmen durch die libysche Küstenwache in dieser Region in internationalen Gewässern vor Libyen gehört und wurde selbst Zeuge davon. In mehreren Fällen brachte das aggressive Verhalten der Besatzungen von libyschen Küstenwachpatrouillenbooten das Leben der Schiffbrüchigen in Gefahr. Laut EU- und UN-Institutionen qualifiziert sich Libyen nicht als „Place of Safety“, einem sicheren Ort für die Anlandung geretteter Personen. Die Anlandung von aus Seenot geretteten Personen in Libyen stellt daher einen Verstoß gegen das Seerecht dar. Es gab unzählige Berichte von Überlebenden sowohl auf der Ocean Viking als auch an UN-Institutionen über willkürliche Inhaftierung und einen Zyklus von Ausbeutung, Erpressung und Gewalt nach Abfang- und Rückführungsmaßnahmen durch die libysche Küstenwache. 

 

Welche Kriterien für Seenot lösen die Verpflichtung zur Rettung aus? 

Das Seerecht, genauer gesagt die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS), schreibt vor, dass jedes Schiff, das in der Lage ist, Personen in Seenot Hilfe zu leisten, dies tun muss. Die Insassen auf den Booten, von denen eine Person sich geweigert hat, evakuiert zu werden, waren objektiv in Seenot. Den Menschen in Seenot auf diesen Schiffen nicht zu helfen, würde daher einen Verstoß gegen internationales Recht darstellen. 

Die Kriterien, die Seenot ausmachen, sind in internationalen und EU-Verordnungen klar definiert, wie z. B. in der Verordnung (EU) Nr. 656/2014. Es gibt mehrere Elemente, die zu berücksichtigen sind, um zu beurteilen, ob ein Boot in Seenot ist: 

  1. das Vorliegen einer Bitte um Hilfe, wobei eine solche Bitte nicht das alleinige Kriterium für das Vorliegen einer Seenotsituation sein darf;
  2. die Seetüchtigkeit des Schiffes und die Wahrscheinlichkeit, dass das Schiff sein Ziel nicht erreicht; 
  3. die Anzahl der Personen an Bord im Verhältnis zur Art und Beschaffenheit des Schiffes; 
  4. die Verfügbarkeit notwendiger Vorräte wie Treibstoff, Wasser und Nahrung, um eine Küste zu erreichen; 
  5. das Vorhandensein qualifizierter Besatzung und Führung des Schiffes; 
  6. die Verfügbarkeit und Fähigkeit von Sicherheits-, Navigations- und Kommunikationsausrüstung; 
  7. das Vorhandensein von Personen an Bord, die dringend medizinische Hilfe benötigen; 
  8. das Vorhandensein von Verstorbenen an Bord; 
  9. das Vorhandensein schwangerer Personen oder von Kindern an Bord; 
  10. die Wetter- und Seebedingungen, einschließlich Wetter- und Seewettervorhersagen. 

 

Alle von SOS MEDITERRANEE geretteten Boote erfüllen nicht nur eines, sondern mehrere dieser Kriterien. Die beiden im Dezember und November 2023 geretteten Schiffe waren für die Navigation auf hoher See ungeeignet und überfüllt, keiner der Menschen in Seenot war zertifiziert ein Boot zu steuern, das Boot verfügte nicht über wesentliche Sicherheitsausrüstung und Rettungswesten, alle Schiffbrüchigen waren den Elementen ungeschützt ausgesetzt und in manchen Situationen waren die Wetterkonditionen schlecht. 

 

Warum ist die Ocean Viking dazu verpflichtet immer ihre aktuelle Position öffentlich zu kommunizieren? 

SOS MEDITERRANEE war nie mit Personen in Libyen in Kontakt, die beabsichtigen, das Mittelmeer zu überqueren, und wir kommunizieren den Standort oder die Route der Ocean Viking nicht öffentlich. Allerdings verpflichten maritime Sicherheitsvorschriften alle Schiffe über einer bestimmten Tonnage, mit automatischen Identifikationssystem (AIS) Transceivern ausgestattet zu sein, die Navigationsdaten an AIS-Empfänger übertragen. Als solches können alle Schiffe auf den Diensten für den Schiffsverkehr, elektronischen Karten und öffentlich zugänglichen Websites zur Schiffsverfolgung verfolgt werden. Die Position der Ocean Viking muss daher jederzeit für alle mit Internetzugang öffentlich zugänglich sein. Das Ausschalten des AIS-Transceivers, um die Position und Route des Schiffes zu verbergen, ist nicht legal und daher keine Option.

 

Wir werden weiterhin Menschen in Seenot retten. 

Untersuchungen auf See liegen in der Verantwortung staatlicher Behörden. Wir werden die Situation weiterhin genau überwachen und transparent mit den Behörden kommunizieren, wie wir es schon immer getan haben. 

Menschen, die aus Libyen fliehen, haben keine andere Wahl, als ihr Leben auf See zu riskieren, um der Gewalt und den Menschenrechtsverletzungen im Land zu entkommen. Eine Zunahme von Abfang- und Rückführungsmaßnahmen und das Fehlen sicherer und legaler Alternativen zur Suche nach Schutz führen zu einer Anpassung von Routen und Techniken. Je schwieriger es für Menschen wird, dem schrecklichen Missbrauch in Libyen zu entkommen, über den Überlebende seit Jahren unseren Teams an Bord berichten, desto mehr sind sie gezwungen, sich auf Schmuggler und Menschenhändler zu verlassen. Solange Menschen gezwungen sind, das Meer zu überqueren, um Schutz zu suchen, und keine staatlich geführte Initiative besteht, um die steigende Zahl der Todesfälle im Mittelmeer zu stoppen, werden wir unsere lebensrettende Mission auf See fortsetzen, um das Seerecht und die Pflicht zur Rettung aufrechtzuerhalten. 

 

Fotocredits: Tess Barthes / SOS MEDITERRANEE

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