Ich kann nur bezeugen, was geschehen ist, damit wenigstens diese zwölf Menschen nicht spurlos verschwinden, damit ihr Tod überhaupt beachtet wird.  

DATUM

Am Montag, den 25. April 2022, rettete das Team von SOS MEDITERRANEE 94 Menschen in einem schwierigen Rettungseinsatz, der durch die libysche Küstenwache gefährdet wurde. Einige Stunden später erzählten die Überlebenden dem Team an Bord, dass 15 Menschen in der Nacht zuvor von dem überfüllten Schlauchboot ins Wasser gefallen waren. Nur drei schafften es zurück an Bord, die anderen sind aller Wahrscheinlichkeit nach ertrunken. 12 Menschen gelten offiziell als vermisst. Claire, Kommunikationsbeauftragte und Fotografin an Bord, hat die traurige Abfolge der Ereignisse geschildert. 

 

Erstens: die Suche.

Um 09:42 Uhr erfährt die Brücke per Email von der zivilen Notrufhotline Alarm Phone von einem Boot in Seenot. Ich steige die Treppe zur Brücke hinauf, um mit der Such- und Rettungskoordinatorin zu sprechen. „Wir sind 10 Seemeilen entfernt,” sagt sie. Ich informiere die Journalisten, die mit uns an Bord sind.

 

Zweitens: „Fertigmachen zur Rettung.“

Der Leiter des Such- und Rettungsteams bestätigt die Sichtung des in Seenot geratenen Bootes. „Alle Teams, alle Teams, fertigmachen zur Rettung,“ heißt es per Funk. Darauf sind wir alle vorbereitet, dennoch zieht sich unser Magen immer kurz zusammen, wenn wir diesen Satz hören. Es gibt keine Sekunden zu verlieren: Ich ziehe meine Rettungsausrüstung an, wasserdichte Kleidung, Schwimmweste, Handschuhe, Helm, Mundschutz. Ich kontrolliere die Ausrüstung der Journalisten, bringe sie auf den neusten Stand, nehme meine Kamera und gebe den Fahrern unserer drei Rettungsschnellboote die GoPro-Kameras.

 

Drittens: Die Rettung.

Ich bin auf dem Rettungsboot, von dem aus wir die erste Einschätzung des Seenotfalls vornehmen. Es ist ein weißes Schlauchboot, die Leute sitzen auf den Luftkammern. Das Boot ist überfüllt. In der Mitte des Bootes sind ein Baby und eine Frau. Wir beginnen, die Menschen von dem Boot zu evakuieren. Zuerst das Baby. Es ist winzig. Als ich das Foto mache, denke ich, dass das Baby gleich in Sicherheit ist, sobald es mit den ersten Überlebenden an Bord der Ocean Viking gebracht wird. Wenige Sekunden später, als das erste Schnellboot die Überlebenden zum Mutterschiff bringt, hören wir die Brücke über Funk sagen: „Wir haben Besucher, ungefähre Ankunft in 11 Minuten.“

Mit „Besucher“ ist die libysche Küstenwache gemeint. Das wird nicht per Funk gesagt, um Panik unter den Menschen in Seenot zu vermeiden. Aber wir wissen es. Sie näherten sich schon gestern bei der Rettung eines defekten Schlauchbootes. Mit dem Kielwasser ihres Schiffes und der Panik, die sie bei den Menschen in Not auslösten, brachten sie das Boot fast zum Kentern. Und jetzt schon wieder. Werden sie aggressiver sein als gestern? Wollen sie die Rettung verhindern? Werden die Menschen ins Wasser springen, wenn sie sie sehen? Sie kommen mit hoher Geschwindigkeit angefahren, während wir die Menschen weiter aus dem Gummiboot evakuieren. Die Menschen in Seenot bekommen Angst, sie versuchen, auf uns zu springen, um zu entkommen. Sie haben Angst, nach Libyen zurückgebracht zu werden, zurück in den Kreislauf der Gewalt, dem sie zu entkommen versuchen. Die Menschen könnten jederzeit ins Wasser fallen. Alle meine Teamkolleg*innen bleiben ruhig und wenden Techniken an, um die Menschen zu beruhigen und die Situation zu stabilisieren. Wir setzen die Rettung fort, wie wir es gelernt haben. Die Evakuierung des in Seenot geratenen Bootes ist abgeschlossen. Die libysche Küstenwache folgt unserem Rettungsschnellboot zum Bootsanleger und zieht bedrohlich Kreise um die Ocean Viking, bevor sie zum Schlauchboot zurückkehren, um den Motor abzunehmen.

 

 

Viertens: Die 12 vermissten Personen.

Zurück an Deck sehe ich, wie das Team die Überlebenden versorgt. Die Hebamme hat das Baby auf dem Arm. Ich kann jetzt sein Gesicht sehen. Es lächelt. Ich sage mir: „Es ist vorbei, diese Rettung hätte kritisch werden können, aber sie ist vorbei“. Doch ein paar Stunden später kommt der Leiter des Post-Rescue-Teams mit gesenktem Blick zu mir. Es ist noch nicht vorbei. „Mehrere Überlebende haben uns erzählt, dass in der Nacht Menschen aus dem Gummiboot über Bord gefallen sind,“ sagt sie. „Nur drei wurden geborgen. Sie waren 106, als sie von Bord gingen, und wir haben 94 Menschen gerettet.“

12 Menschen werden noch vermisst. Sie wurden in der Dunkelheit vom Meer mitgerissen, nur wenige Stunden bevor wir die übrigen Menschen gerettet haben. Ich gehe zurück an Deck. „Der Schrecken ist vorbei,“ hatte ich mir noch kurz zuvor gesagt. Die Erleichterung, die ich gerade noch empfand, ist verschwunden. Jetzt, wo die Menschen sich an Deck niedergelassen haben, kann ich sehen, was ich vorher nicht sehen konnte: Menschen, die immer noch unter Schock stehen und in sich zurückgezogen sind. Ich schaue auf das Baby, das immer noch lächelt. Er hat keine Ahnung, was gerade passiert ist. Er ist erst ein Jahr alt, erfahre ich. Er ist in den 12 Monaten seines Lebens durch die Hölle gegangen.

Ich kann nur bezeugen, was geschehen ist, damit wenigstens diese zwölf Menschen nicht spurlos verschwinden, damit ihr Tod überhaupt beachtet wird.

 

Titelfoto: Claire Juchat / SOS MEDITERRANEE

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