Schweigen Italiens zwingt SOS MEDITERRANEE, sicheren Hafen in Frankreich für 234 Überlebende anzufragen

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„Die Situation an Bord der Ocean Viking hat einen kritischen Punkt erreicht. Wir stehen nun vor sehr weitreichenden Konsequenzen, einschließlich der Gefahr des Verlustes von Menschenleben. Die physische und psychische Gesundheit der Überlebenden und der Besatzung leidet unter der mehr als zwei Wochen andauernden Blockade auf See. Es ist ein humanitärer Notfall, der eine sofortige Reaktion erfordert,“ warnt Carl Drexler, Geschäftsführer von SOS MEDITERRANEE in Deutschland.  

Heute ist der 18. Tag, den einige der 234 von seeuntüchtigen und überfüllten Booten geretteten Menschen auf der Ocean Viking verbringen müssen. In den vergangenen Tagen und Stunden hat unser Team eine drastische Verschlechterung des physischen und psychischen Gesundheitszustands der Frauen, Kinder und Männer beobachtet, die ohne Aussicht auf eine Lösung auf dem Deck unseres Schiffes festsitzen.   

„Das medizinische Team beobachtet bei den Überlebenden akuten psychischen Stress, mit zunehmenden Anzeichen von Angst, Depression, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit. Nachdem sie bereits so lange darauf warten müssen an Land gehen zu können, verlieren die Überlebenden das letzte bisschen Hoffnung und ihre unglaubliche Widerstandsfähigkeit, die sie bisher gezeigt haben. Einige Überlebende haben bereits die Absicht geäußert, aus Verzweiflung über Bord zu springen. Jederzeit kann es zu gefährlichen Zwischenfällen kommen, die die Sicherheit der Überlebenden und unserer Teams an Bord gefährden“, so Carl Drexler.  

Es ist unerklärlich, dass nach mehrfachen täglichen Anfragen für die Zuweisung eines sicheren Hafens an alle Rettungsleitstellen (RCC), die bei der Koordinierung unterstützen könnten, bis heute keine Lösung gefunden wurde. Die Ocean Viking hat sich zunächst an die Rettungsleitstellen gewandt, die für die Such- und Rettungszonen zuständig sind, in denen wir die Einsätze durchgeführt haben (Libyen und Malta). Nach dem Ausbleiben einer Antwort wandten wir uns, wie es das Seerecht vorsieht, an das nächstgelegene RCC, welches am ehesten in der Lage ist, einen sicheren Hafen zur Verfügung zu stellen, nämlich Italien. Doch die neu gewählte Regierung hat allen von NGOs betriebenen Such- und Rettungsschiffen ein diskriminierendes und implizites Verbot der Einfahrt in die Hoheitsgewässer auferlegt und hat uns trotz unserer zahlreichen offiziellen Anfragen keinen sicheren Ort zugewiesen. So waren wir gezwungen, unsere Anfragen um Unterstützung bei der Suche nach einem sicheren Hafen auf die RCCs in Frankreich, Spanien und Griechenland auszuweiten. Seit fast einer Woche haben die Ocean Viking und die Überlebenden an Bord noch immer keine Antwort erhalten.    

„In den vergangenen Tagen wurde in Sizilien mit der selektiven und diskriminierenden Ausschiffung von Menschen, die von den humanitären Rettungsschiffen HUMANITY 1 und Geo Barents gerettet wurden, in eklatanter Weise gegen humanitäres Recht und internationales Seerecht verstoßen. Diesen beiden Schiffen wurde die sichere und vollständige Ausschiffung aller Geretteten verweigert. Eine solche Maßnahme steht nicht im Einklang mit den Bestimmungen der geltenden internationalen maritimen und humanitären Konventionen zur Regelung von Such- und Rettungseinsätzen,“ sagt Nicola Stalla, Such- und Rettungskoordinator an Bord der Ocean Viking.   

Alle Überlebenden, die aus Seenot gerettet werden, sind de facto schutzbedürftig. Ihre Rettung ist erst dann abgeschlossen, wenn sie an einem sicheren Ort an Land gehen konnten, etwas das im Dekret des Innenministeriums an die beiden zivilen Rettungsorganisationen, verneint wird. Die Anweisung an die Rettungsschiffe, die italienischen Hoheitsgewässer mit den verbliebenen Überlebenden an Bord zu verlassen, wie sie Humanity 1 mitgeteilt wurde, gefährdet die Sicherheit der noch an Bord verbleibenden Überlebenden.  Drei Überlebende, die an der Ausschiffung der Geo Barents gehindert wurden, sprangen gestern (7. November) aus Verzweiflung über Bord.  

Angesichts des Schweigens Italiens und der außergewöhnlichen Situation hat die Ocean Viking ihren Antrag auf einen sicheren Ort in Frankreich ausgeweitet. Wir erwarten, dass die Ocean Viking bis zum 10. November in internationalen Gewässern in der Nähe von Korsika ankommt. Diese extreme Lösung ist das Ergebnis eines kritischen und dramatischen Versagens aller europäischen Staaten, bei der Suche nach einem sicheren Hafen zu helfen. Wir drängen darauf, dass das französische MRCC sofort eine Lösung für die Überlebenden auf der Ocean Viking findet.  

„Es darf nicht länger hingenommen werden, dass den Überlebenden nicht umgehend ein sicherer Ort zugewiesen wird. Wir fordern – einmal mehr – die Regierungen auf, als EU-Mitgliedstaaten und assoziierte Staaten gemeinsam mit der Europäischen Kommission einen vorhersehbaren Mechanismus für die Ausschiffung von Überlebenden an sicheren Orten zu schaffen, an denen ihre Sicherheit nicht mehr gefährdet ist und ihre grundlegenden menschlichen Bedürfnisse erfüllt werden können,“ so Carl Drexler. 

 

Hinweis an die Redaktion: 

  • Zwischen dem 22. und 26. Oktober retteten die Teams auf der Ocean Viking 234 Frauen, Kinder und Männer aus sechs seeuntüchtigen und gefährlich überfüllten Booten in akuter Seenot. Unter den Geretteten befinden sich mehr als 40 unbegleitete Minderjährige und vier Kinder unter vier Jahren. Drei Rettungseinsätze wurden in der libyschen Such- und Rettungszone (SRR) durchgeführt, die anderen drei in der maltesischen SRR.  
  • Die Teams auf der Ocean Viking informierten bei allen Einsätzen die zuständigen Rettungsleitstellen (RCC) über alle Schritte und baten um Informationen und Koordination. Zusätzlich baten sie nach jeder Rettung um die Zuweisung eines sicheren Ortes, an dem die Geretteten an Land gehen können. Die Ocean Viking erhielt jedoch keine positiven Antworten.  
  • Seit dem 27. Oktober schickte die Ocean Viking täglich Anfragen mit der Bitte um Unterstützung bei der Suche nach einem sicheren Hafen für die 234 Überlebenden an das RCC in Italien, die nächstgelegene Rettungsleitstelle, die in der Lage ist, einen sicheren Ort zuzuweisen. Leider ohne Erfolg.  
  • Seit dem 2. November hat die Ocean Viking täglich Anfragen zur Zusammenarbeit und Koordinierung bei der Suche nach einem sicheren Ort für die Überlebenden an Bord an die Seenotrettungsleitstellen in Frankreich, Spanien und Griechenland gerichtet. Diese sind die nächstgelegenen RCCs und am ehesten in der Lage, die bereits kontaktierten RCCs zu unterstützen. Leider vergeblich. 
  • Heute, am 8. November, hat die Ocean Viking eine Anfrage für einen sicheren Hafen an die französische Rettungsleitstelle geschickt.  
  • Nach Angaben des IOM Missing Migrants Project sind in diesem Jahr mindestens 1.337 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute gestorben. Die meisten der 88.000 Menschen, die im Jahr 2022 auf dem Seeweg nach Italien kamen, wurden von der italienischen Küstenwache und anderen staatlichen Rettungsschiffen gerettet oder kamen selbstständig an. Nur fünfzehn Prozent wurden von zivilen Rettungsschiffen gerettet. 

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