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Am 16. Januar 2023 ging Fotograf Nissim für seine erste Mission an Bord der Ocean Viking. Als Teil des Kommunikationsteam von SOS MEDITERRANEE war es seine Aufgabe, die Realität im zentralen Mittelmeer zu dokumentieren.

Nissim hat aufgeschrieben, wie er die Suche nach mehreren Vermissten nach einem Rettungseinsatz am 25. Januar erlebte: 95 Menschen konnten an diesem Tag in internationalen Gewässern vor Libyen von einem überfüllten Schlauchboot gerettet werden, doch nach der Rettung erzählten sie unserem Team von dem Verlust mehrerer ihrer Mitreisenden, die von Bord gefallen waren. In einem Wettlauf gegen die Zeit suchte das Rettungsteam nach den Vermissten – ohne Erfolg. Mindestens vier Menschen verloren an diesem Tag im zentralen Mittelmeer ihr Leben.

Sobald ich wieder zurück an Bord der Ocean Viking bin, muss ich die Fotos und Videos, die ich während der Rettung gemacht habe, abspeichern und so schnell wie möglich an das Kommunikationsteam an Land schicken. Das Rettungsteam holt die Rettungsboote ein, mit denen sie 95 Menschen von einem überfüllten und seeuntüchtigen Schlauchboot in Seenot evakuiert haben. Auf dem Achterdeck ruhen sich die Überlebenden aus und das Care-Team stellt die Erstversorgung sicher. Es ist 14 Uhr, als ich auf die Schiffsbrücke gehe. Hier werden nicht nur alle Entscheidungen getroffen, sondern man bekommt auch einen guten Überblick über die Vorgänge an Bord und um das Schiff herum. Es ist ein guter Zeitpunkt, denn ich muss das libysche Patrouillenboot „Ubari“ im Auge behalten, das noch immer in der Ferne zu sehen ist, falls es nochmal in unserer unmittelbaren Nähe gefährliche Manöver fährt. Meine Gedanken schweifen einen Moment ab und ich denke, „Ubari? Seltsam ein Boot nach einer Oase mitten in der Wüste zu benennen.“ Ich werde durch eine beunruhigende Nachricht aus meinen Gedanken gerissen: Einige der Überlebenden berichten, dass mehrere ihrer Mitreisenden ins Wasser gefallen sind, bevor wir bei dem Seenotfall ankamen. Die Zahl der Vermissten und der Zeitpunkt variieren in den Erzählungen, aber eines ist sicher: Mehrere Menschen werden vermisst, und die Rettungsaktion ist noch nicht beendet.

Wir fahren schon seit fast einer Stunde Richtung Nordwesten und entfernen uns langsam vom Rettungsgebiet. Schnell fällt der Entschluss, umzukehren und mit der Suche nach den Vermissten zu beginnen. Die Zeit istk napp, denn bald wird es dunkel. Ich beginne, ein paar Fotos an das Team an Land zu schicken und mache mich für die Suche nach den Vermissten bereit. Als ich in der Umkleidekabine meine noch immer durchnässte Ausrüstung anziehe, bemerke ich eine bedrückende Stille. Im Training haben wir alle erdenklichen Rettungsszenarien durchgespielt, aber nicht dieses. Als ich fertig bin, gehe ich die Treppe zum Hauptdeck hinunter. Ein Kollege, Ash, greift mich am Arm. „Ist die Vorstellung, vielleicht Leichen zu sehen, für dich in Ordnung?,“ fragt er mich mit ernster aber gemäßigter Stimme. Ich bin mir nicht sicher, aber es ist wichtig, diese Realität im Mittelmeer zu bezeugen. Das ist eine meiner Aufgaben als Fotograf an Bord. Ich versuche, so überzeugend wie möglich zu wirken, und antworte nur mit “ja.” Ich sehe in seinen Augen, dass er ein wenig unsicher ist, aber es bleibt keine Zeit, es weiter zu besprechen. Wir müssen zum Rest des Teams zur Einsatzbesprechung. “Die Überlebenden berichten, dass sie Schläuche ins Wasser geworfen haben,“ heißt es. „Vielleicht treiben die Vermissten noch auf dem Meer.” Aber niemand macht sich etwas vor. Alle denken an das Worst-Case-Szenario. „Wenn wir eine Leiche finden, wird sie geborgen.“

Als ich an Bord von Eazy 1, einem unserer Rettungsboote, gehe, bemerke ich, dass etwas anders ist. Die riesigen Säcke mit Rettungswesten, die normalerweise in der Mitte des Schlauchbootes liegen, sind verschwunden. Sie wurden durch einen Leichensack und eine Trage ersetzt. In der Hoffnung, die Vermissten zu finden, werden wir bis zum Einbruch der Dunkelheit ein weites Gebiet absuchen. Das Suchgebiet wurde anhand des ungefähren Zeitpunktes des Über-Bord-Gehens und der starken Strömung festgelegt. Die Ocean Viking fährt eine gerade Linie. Alle an Bord, die nicht für die Betreuung und die Versorgung der Überlebenden zuständig sind, müssen das Meer mit einem Fernglas absuchen. Unsere Rettungsschnellboote werden auf beiden Seiten der Ocean Viking eine Art regelmäßiges Zickzack fahren, um das Gebiet so gut wie möglich abzudecken: fünf Seemeilen nach Osten, eine nach Süden, fünf Seemeilen nach Westen, eine nach Süden, fünf Seemeilen nach Osten, eine nach Süden und so weiter …

Wir entfernen uns allmählich vom Mutterschiff und beginnen sofort mit unserem Suchmuster. Ralph ist am Steuer. Ash und ich überwachen die Backbordseite, Salva und Mimi die Steuerbordseite. In der Ferne ist nichts als die Weite des Meeres zu sehen, nur der Himmel bildet einen Kontrast. Die Wellen sind nicht sehr groß, aber so hoch, dass man kaum weiter als hundert Meter sehen kann. Schaumkronen erscheinen auf ihren Spitzen. Gelegentlich unterbricht eine größere Welle den Rhythmus der Wellen. Niemand spricht. Ich versuche, mich auf das Meer zu konzentrieren und suche die Ferne ab, in der Hoffnung, etwas oder jemanden zu entdecken. Irgendwo sind vier Menschen. Vielleicht sind sie noch am Leben. Von Zeit zu Zeit schaue ich zu den anderen und frage mich, was sie in solchen Momenten denken, denn sie alle sind erfahren.

Plötzlich entdeckt Ash etwas. Ralph schaltet den Motor ab, und wir hören nur noch die Stille des Meeres. Ein paradoxer Moment der Ruhe und Anspannung. Alle schauen jetzt in die gleiche Richtung, wer weiß, was wir finden werden. Einen Moment lang versuchen wir zu erkennen, worauf Ash aufmerksam geworden ist, aber wir sehen nichts als Wasser, Wasser und Wasser. Nach einigen Minuten fahren wir weiter. „Brücke, Eazy 1 nimmt den Kurs wieder auf Richtung 090, over.“ Von da an beginnen wir eine Art mechanische Choreographie. Alle zehn Minuten erinnert uns die Brücke an unseren Kurs. „Eazy 1, Eazy 1, Brücke, fahrt für eine Seemeile auf Kurs 180 Grad weiter.“ Wir wenden und setzen unseren Kurs fort. Nur Dank der Ocean Viking in der Ferne und des Kompasses können wir uns in diesem weiten Gebiet zurechtfinden.

Inmitten des Wassers habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich lasse den gesamten Tag Revue passieren – der Notruf, der vom zivilen Hilfstelefon Alarm Phone mit uns und den Behörden geteilt wurde, die von Seabird, dem Beobachtungsflugzeug der deutschen NGO Sea-Watch, übermittelte Position des Seenotfalls, das Team der Ocean Viking, das die Rettung durchführte. All diese Menschen, die unterschiedliche Aufgaben übernommen haben, um die 95 Menschen zu retten. Alles ging so schnell. Die Sonne beginnt jetzt, im Wasser zu versinken. Das Blau des Himmels ist violetten und rosafarbenen Tönen gewichen, doch schon bald werden sie in der Dunkelheit verschwinden. Eine Landschaft, die ebenso schön wie tragisch ist. Je dunkler es wird, desto geringer werden die Chancen, die Vermissten zu finden. Es wird immer schwieriger, den Blick auf den Horizont zu richten, und die Kontraste zwischen den Wellen verschwinden allmählich. Ich denke mir, dass eine Person vor meinen Augen vorbeiziehen könnte und ich sie vielleicht nicht einmal sehe. Je mehr das Licht schwindet, desto größer wird die Anspannung, und desto näher rückt der Tod. In einem letzten Anflug von Hoffnung beendet Easzy 1 die Suche nicht wie geplant, indem wir zur Ocean Viking zurückfahren. Das Schnellboot fährt stattdessen in einer geraden Linie in die Ferne. Es ist wie ein Verlangen, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Schließlich durchbricht das Knistern des Funkgeräts die Umgebungsgeräusche. „Suche beendet,“ meldet die Brücke. „Eazy 1 und Eazy 3, zurück zum Mutterschiff.“ Der Satz klingt wie ein Todesurteil, das wahrscheinlich längst gefallen ist. Heute, am 25. Januar, sind mindestens vier weitere Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben.

Mögen sie in Frieden ruhen.

Irgendwo auf der Welt haben Familien einen geliebten Menschen verloren. Eine Tochter, einen Sohn, eine Schwester, einen Bruder, einen Cousin, einen Freund … Vielleicht werden sie nie davon erfahren.

Ich denke an sie.

 

 

Fotos: Nissim Gasteli / SOS MEDITERRANEE

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