„Wir haben drei Optionen: sterben, zurück nach Libyen gebracht werden oder endlich in Sicherheit sein. Mein Freund wurde von der ersten Option weggeschwemmt, er ist auf See gestorben.“ 

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TRIGGER-WARNUNG: Beschreibung von Gewalt und vermissten Menschen.

Inoussa*, 26 Jahre alt, aus Burkina Faso, war einer der 295 Menschen, die von der Crew der Ocean Viking zwischen dem 24. und 27. April 2022 gerettet wurden. Inoussa wurde zusammen mit 93 anderen Überlebenden von einem in Seenot geratenen Schlauchboot evakuiert. Während der Rettung näherte sich die libysche Küstenwache, was Panik auslöste. Nach der Rettung gehörte Inoussa zu den Überlebenden, die uns von einem schrecklichen Vorfalle berichteten. Fünfzehn Menschen fielen in der Nacht über Bord, wenige Stunden nach dem Start von der libyschen Küste. Nur drei Menschen schafften es zurück zum Schlauchboot zu schwimmen. Zwölf Menschen verschwanden auf See. Inoussa verlor in dieser Nacht einen Freund.

Inoussa studierte Jura und Politikwissenschaften an der Universität. “Da ich mich mit dem Gesetz auskenne, habe ich gesehen, dass die Rechte in meinem Land nicht angewendet wurden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, und die Gewalt in meinem Land nimmt zu. Ich hatte keine andere Wahl, als Burkina Faso zu verlassen.“

Inoussa durchquerte zuerst die Sahara und erinnert sich an die schwierige Überquerung. „Es war schrecklich, wir waren dreißig Menschen in einem Auto, mit wenig Wasser. Der Fahrer schlug uns, wenn wir protestierten. Einige Menschen fielen vom Auto, der Fahrer hielt nicht an…“. Inoussa blieb zwei Jahre in Libyen. Als er zum ersten Mal mit den anderen Menschen mit dem Auto ankam, wurde er in ein Gefängnis mit über 300 Personen gebracht. Die Lebensbedingungen waren schrecklich. „Wir mussten an demselben Ort urinieren und uns erleichtern, an dem wir schliefen. Der Geruch machte die Menschen krank. Ein Stück Brot kostete 5 Dinar. Die Wärter riefen meinen Bruder an, und er musste Geld für meine Freilassung schicken.“ Nach dieser schrecklichen Erfahrung fand Inoussa einen Job auf einer Baustelle. „Ich arbeite, um etwas Geld zu verdienen, um die Überfahrt über das Meer zu bezahlen. Nachdem ich diese Schrecken erlebt habe, wollte ich nach Europa gehen, um zu erklären, dass die Rechte in Libyen und in meinem Land nicht respektiert werden, weil ich weiß, dass in Europa das Gesetz existiert und die Rechte angewendet werden. Die Rechte dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern müssen überall und für jeden respektiert werden.“

Inoussa versuchte dreimal, Libyen mit dem Boot zu verlassen. Er wurde zweimal abgefangen. „Ich wurde von demselben libyschen Patrouillenboot abgefangen, das uns nahekam, als ihr uns gerettet habt. Die Nummer auf dem Boot war 660. Sie schlugen die Frauen und Kinder, um sie zurück auf ihr Boot zu bringen, sie verbreiteten Panik unter den Menschen an Bord, es war sehr gefährlich.“ Nach diesen erzwungenen Rückführungen wurde Inoussa zweimal ins Gefängnis geschickt. „Wir wurden jeden Tag gefoltert. Menschen waren krank, durften aber nicht ins Krankenhaus gehen. Die libysche Küstenwache rettet Menschen nicht, sie bringen sie zurück ins Gefängnis, ohne sich um die Gesundheit der Menschen zu kümmern, sie respektieren unsere Rechte nicht. Wir sind für sie nur Handelsware.“

Beim dritten Versuch, das Meer zu überqueren, befand sich Inoussa auf einem überfüllten Schlauchboot. Nachdem er gesehen hatte, wie Menschen in der Wüste fielen, erlebte er die Tragödie, Menschen ins Wasser fallen zu sehen. „Ich war auf derselben Seite wie die Vermissten, wir waren auf den Schwimmkörpern. Die Leute sind eingeschlafen. Sie fielen über Bord. Das Meer hat sie genommen. Einer meiner Freunde ist ertrunken.“ Er sagte, dass sein Freund allen an Bord des überfüllten Schlauchboots während ihrer beängstigenden Fahrt über Nacht Mut zusprach und ihnen riet, ruhig zu bleiben und Panik zu vermeiden. „Wir haben drei Optionen“, sagte er allen in Not, kurz bevor das tragische Ereignis eintrat: „Sterben, zurück nach Libyen gebracht werden oder endlich in Sicherheit gelangen“. Inoussa schloss: „Mein Freund wurde von der ersten Option weggeschwemmt, er ist auf See gestorben.“

Inoussa wurde schließlich am 25. April gerettet. Das libysche Küstenwachenschiff 660 näherte sich während der Rettung der Szene. Inoussa gestand, dass er in Panik geriet, ein drittes Mal nach Libyen zurückgeschickt zu werden, und erklärte er sei sehr erleichtert gewesen, als er an Bord des Rettungsbootes von SOS MEDITERRANEE war. „Ich hätte es nicht verkraftet, nach allem, was passiert ist, wieder nach Libyen zurückgebracht zu werden.“

Fotocredits: Claire Juchat / SOS MEDITERRANEE

Nach all den Schwierigkeiten, die Inoussa in der Wüste, in Libyen und auf See durchlebt hatte, erlebte er eine der längsten Pattsituationen der Ocean Viking. 295 Überlebende waren 8 Tage lang auf See gestrandet, bevor sie endlich an Land gehen konnten. Am 8. Tag, nachdem sie erneut 3 Meter hohe Wellen durchstehen mussten, teilte Inoussa seine Verzweiflung.

„Es macht mich krank, meinen Freund mit Seekrankheit kämpfen zu sehen, die Frauen und Kinder leiden zu sehen, während dieser langen Wartezeit auf See. Die Wellen, das gleiche Notfallessen jeden Tag, auf dem Deck schlafen… Ich möchte die europäischen Behörden dazu aufrufen, die Rechte zu respektieren, die sie sich selbst vorgeschrieben haben. Unsere Freiheit muss respektiert werden. Wir alle haben Traumata, wir sind alle krank, wir müssen an Land versorgt werden. Es gibt unbegleitete Minderjährige auf dem Schiff. Diese Wartezeit lässt uns das Vertrauen in die Behörden verlieren. Die Behörden entziehen sich ihrer Verantwortung. Je länger die Wartezeit, desto mehr Verzweiflung setzt ein und desto mehr Hoffnung schwindet.“

Inoussa konnte schließlich am 6. Mai in Pozzallo, Sizilien, an Land gehen.

Fotocredits: Claire Juchat / SOS MEDITERRANEE

*Der Name wurde geändert, um die Identität des Überlebenden zu schützen.

Zeugenaussage von Claire Juchat, Kommunikationsbeauftragte an Bord der Ocean Viking im Mai 2022.

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