Blick durch einen großen offenen Schiffsfensterrahmen auf das offene wellige Meer.
[Blick auf das zentrale Mittelmeer #60] Fast 1.000 Todesfälle wurden in weniger als 6 Monaten im zentralen Mittelmeer inmitten restriktiver Maßnahmen der Ankunftsländer verzeichnet

DATUM

[27.04 – 17.05.23] Die folgende Veröffentlichung von SOS MEDITERRANEE soll Licht auf die Ereignisse werfen, die sich in den letzten Wochen im zentralen Mittelmeer ereignet haben.  Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll vielmehr einen allgemeinen Überblick über die Lage der Seenotrettung in dem Gebiet geben, in dem wir seit 2016 tätig sind. Dabei stützt sich die Veröffentlichung auf öffentliche Berichte verschiedener NGOs, internationaler Organisationen und der internationalen Presse. 

 

Erste Koordination der Einsätze durch Seebehörden seit Jahren inmitten Verletzungen des internationalen Seerechts

Am 27. April rettete die Ocean Viking der NGO SOS MEDITERRANEE 15 Menschen aus einem Glasfaserboot in der maltesischen Such- und Rettungsregion (SRR). Am Tag darauf führte die Ocean Viking innerhalb von sieben Stunden drei weitere Rettungsaktionen in der maltesischen SRR durch, die alle von der italienischen Koordinationsstelle für Seenotrettung (MRCC) angewiesen wurden. Der weit entfernte Hafen von Civitavecchia wurde als sicherer Ort für die 168 Überlebenden an Bord zugewiesen, die schließlich am 2. Mai nach vier Tagen Fahrt an Land gehen konnten. 

Während solche koordinierten Maßnahmen des italienischen MRCC im zentralen Mittelmeer lebenswichtig und längst überfällig sind, wies dieselbe Behörde am 29. April das Handelsschiff Grimstad, dessen Besatzung etwa 30 Menschen in Not gerettet hatte, an, die Überlebenden nach Libyen zurückzubringen, was gegen internationales Seerecht verstößt. 

Am 29. April rettete das Rettungsschiff „Life Support“ der NGO Emergency 35 Menschen, die zuvor vier Tage auf See verbracht hatten. Alle Überlebenden wurden am 3. Mai, vier Tage nach ihrer Rettung, im entfernten Hafen von Livorno an Land gebracht. 

Am 28. April unterstütze das Segelschiff Nadir der NGO ResQship ein Boot mit 54 Menschen an Bord. Die Überlebenden gaben an, drei Tage ohne Hilfe auf See verbracht zu haben. Die italienische Küstenwache schloss die Rettung ab. Am 1. Mai half die Besatzung der Nadir einem weiteren Boot mit 35 Menschen an Bord, das zuvor vom Flugzeug Seabird der NGO Sea-Watch entdeckt worden war. Die italienische Küstenwache führte die Rettungsaktion durch und brachte die Überlebenden nach Lampedusa. Am 5. Mai unterstützte die Nadir innerhalb von 5 Stunden insgesamt 234 Menschen aus sechs in Seenot geratenen Booten. Das Team berichtete außerdem von einem Notfall, bei dem ein Boot bereits gekentert war. Während 38 Menschen von drei Fischerbooten aus dem Wasser gezogen werden konnten, wurden drei Leichen entdeckt. 

Am 1. Mai rettete die „Geo Barents“ von der NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) in einem vierstündigen Einsatz in der maltesischen SRR 300 Menschen von einem großen überfüllten Holzboot. Am 2. Mai rettete die Besatzung auf Anweisung des italienischen MRCC 36 Menschen von einem in Seenot geratenen Glasfaserboot. Nach Angaben von Sea-Watch hatte das maltesische MRCC am Vortag ein Handelsschiff angewiesen, die 36 Schiffbrüchigen nicht zu retten, sodass sie eine weitere Nacht auf See verbringen mussten. Für die 336 Überlebenden an Bord wurde der weit entfernte Hafen von La Spezia zugewiesen, wo sie fünf Tage nach der ersten Rettung, am 6. Mai an Land gehen konnten.  

Am 7. Mai unterstützte die Nadir ein überfülltes Holzboot mit zwei Decks und 130 Personen an Bord, das seit drei Tagen manövrierunfähig war. Einige Personen sprangen über Bord und versuchten, die Nadir sowie ein Schiff der italienischen Küstenwache zu erreichen, als dieses am Einsatzort eintraf. Alle Personen konnten von der italienischen Küstenwache geborgen und gerettet werden. 

Nachdem es einen vom deutschen Flaggenstaat verlangten Besatzungsnachweis vorlegte, kehrte das Schiff „Louise Michel“ am 16. Mai in ihr Einsatzgebiet zurück. Am 16. Mai rettete die Geo Barents 26 Menschen aus einem kleinen Schlauchboot, das in der Libyschen SRR in Seenot geraten war und erhielt Brindisi als sicheren Ausschiffungsort zugewiesen. Alle Überlebenden gingen drei Tage später, am 19. Mai, von Bord. 

 

In den letzten sechs Monaten dieses Jahres wurden im zentralen Mittelmeer fast 1.000 Todesfälle verzeichnet, so viele wie seit Jahren nicht mehr.  

Am 28. April berichtete die tunesische Küstenwache, dass innerhalb von nur zwei Wochen mindestens 210 Leichen an den Stränden geborgen wurden. Am 5. Mai berichtete Flavio Di Giacomo, Sprecher der internationalen Organisation für Migration (IOM), dass zwei weitere Leichen geborgen wurden: „Ein weiteres Boot kommt an, eine weitere Leiche. Die zweite heute Morgen. Heute ist ein schrecklicher Tag auf Lampedusa.“ 

Am 8. Mai berichteten die tunesischen Behörden, dass innerhalb von 24 Stunden die Leichen von 14 Menschen geborgen wurden. 

Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat seit 2014 mehr als 30.000 Todesfälle auf den Seewegen nach Europa dokumentiert, darunter allein in diesem Jahr 956 Tote im zentralen Mittelmeer. Bei diesen Zahlen handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um eine Unterschätzung der tatsächlichen Opferzahlen. 

Flavio Di Giacomo erklärt, dass einer der Gründe für die hohe Zahl der Todesfälle, das Aufkommen neuer Metallboote für die Überfahrt ist, welche billig produziert und verkauft werden und schlecht zusammengeschweißt sind. Solche Boote kentern bei Wellengang leicht und man versinkt sofort, da es nichts zum Festhalten gibt.  Laut Frontex-Direktor Hans Leijtens ist diese neue Methode für die Schlepperbanden sehr profitabel. 

 

Boote in Seenot werden weiterhin gewaltsam abgefangen, während die Überfahrten über das zentrale Mittelmeer den höchsten Stand seit Jahren erreichen

Zwischen dem 23. April und dem 13. Mai wurden laut IOM mindestens 723 Menschen gewaltsam nach Libyen zurückgeschickt. Insgesamt wurden in diesem Jahr 5.058 Menschen von der libyschen Küstenwache aufgegriffen. 

Nach Angaben des tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte wurden allein im Jahr 2023 insgesamt 19.719 Menschen von der tunesischen Küstenwache nach Tunesien zurückgebracht. 

Wie Frontex berichtet, hat sich die Zahl der Ankünfte in Europa über die zentrale Mittelmeerroute zwischen Januar und April 2023 auf fast 42.200 gesteigert. Diese Zahl ist im Vergleich zum Vorjahr viermal so hoch und entspricht dem höchsten Stand seit Beginn der Datenerfassung durch Frontex im Jahr 2009. Der Anstieg der Überfahrten ist zum Teil auf die chaotische Situation in Tunesien zurückzuführen, das in diesem Jahr das erste Ausreiseland vor Libyen darstellte.  

 

Die Behörden ergreifen restriktive Maßnahmen, um gegen Menschen vorzugehen, die an die europäischen Küsten gelangen.

Als Reaktion auf die jüngsten Ankünfte in Italien setzten die italienischen Behörden am 3. Mai das Cutro-Dekret in Kraft, welches laut dem europäischen Rat für Flüchtlinge und Vertriebene (ECRE): „den jüngsten Versuch der rechtsextremen Parteien darstellt, den Schutzstatus aus dem nationalen Recht zu entfernen.“ Neben anderen Maßnahmen „schreibt das Gesetz vor, dass es für bestimmte Personengruppen schwieriger wird, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten […] es erweitert ebenfalls den Spielraum für die Inhaftierung von Antragstellern die dem beschleunigten Asylverfahren an der Grenze unterliegen, begrenzt die Möglichkeit auf Folgeanträge und führt Rückführungsentscheidungen nach Ablauf der Berufungsfrist ein.“ 

Am selben Tag, dem 3. Mai, traf sich der stellvertretende Ministerpräsident und Außenminister Italiens, Antonio Tajani, in Rom mit dem Anführer der selbsternannten lybischen Nationalarmee (LNA), General Khalifa Haftar. Nach Angaben der Agenzia Nova, war dabei eines der Themen, die Überfahrt von Menschen zu stoppen, welche die Küste der Cyrenaica verlassen.  

Gemäß InfoMigrants kam am 26. April das höchste Verwaltungsgericht der Niederlande, der Staatsrat, zum Entschluss, dass die Rückführungen von Personen nach Italien im Rahmen der Dublin-Verordnung, die Gefahr von Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen berge. Unter Berufung auf ein Schreiben italienischer Behördenvertreter vom Dezember 2022 stellte das niederländische Gericht fest: „Die italienischen Behörden haben selbst darauf hingewiesen …, dass Überstellungen nach Italien aufgrund fehlender Aufnahmeeinrichtungen nicht möglich sind.“ 

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