[STIMMEN DER GERETTETEN] „Ich machte mich auf den Weg um Hilfe zu suchen – um meine Tochter in Sicherheit zu bringen.“

DATUM

Djewada Camara wurde am 20. März 2020 zusammen mit ihrer sechsjährigen Tochter von der Ocean Viking gerettet. Nachdem Mutter und Tochter über einen Monat in Zawiya, Libyen, verbracht hatten, gingen beide in der Nacht vom 19. auf den 20. März an Bord eines überfüllten Schlauchbootes. Ohne Schwimmwesten, sowie starken Wellen und Winden ausgesetzt, verbrachten beide etwa zehn Stunden auf dem Meer. Djewada und ihre Tochter Souadou wurden zusammen mit 104 weiteren Menschen von Bord eines kleinen Bootes gerettet. Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich in internationalen Gewässern, 34 Seemeilen vor der libyschen Küste. Die Rettung erfolgte gerade noch rechtzeitig, denn ein kleines Loch hatte einen der Bootsträger durchbohrt und es trat bereits Wasser in das Boot ein. Das Wetter verschlechterte sich währenddessen rapide.

Bevor Djewada die Ocean Viking verliess, bat sie darum, ihre Geschichte zu teilen. Sie wollte die Beweggründe ihrer Entscheidung erläutern und erklären, weshalb sie und ihre Tochter alles hinter sich gelassen hatten.

„Ich habe Guinea Conakry wegen meiner Tochter Souadou verlassen. Ich habe insgesamt drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Um meine Tochter zu retten, musste ich meine beiden Jungen allerdings zu Hause bei meinem Mann lassen. Dessen Familie wollte Souadou beschneiden lassen – aber Souadou ist krank, sie hat die Sichelzellenanämie.

Wäre sie beschnitten worden, hätte das ihren Tod bedeutet. Aus diesem Grund bin ich weggelaufen.

Wenn ich das Haus verliess, hörte ich meine Schwägerinnen jedes Mal die Beschneidung meiner Tochter planen. Genitalverstümmelung ist in meinem Land verboten, aber das hindert die Leute nicht daran, es trotzdem zu tun – im Geheimen.

Ich sagte: Wenn das jemand mit meiner Tochter macht, zeige ich ihn an. Aber die Leute haben das nicht verstanden. Einmal, als ich weg war, haben sie versucht meine Tochter zu beschneiden. Daraufhin sprach ich mit meinem Mann, der mir die Erlaubnis gab, zu gehen und Hilfe für meine Tochter zu suchen.

Um nach Libyen zu kommen, durchquerten wir Mali und Algerien. Wir durchquerten die Wüste. Meine Tochter und ich haben unterwegs sehr gelitten. Ich trug sie auf meinem Rücken; von der algerischen Grenze bis nach Ghadames in Libyen. Es war meine Tochter, die mir den Mut gab, weiterzugehen. Wenn ich sie zwei Stunden lang auf meinem Rücken trug und ich kurz vor der Ohnmacht stand, rief sie: „Néné! Néné! “ Das bedeutet „Mutter“ auf Fula. „Néné, wach auf, die Männer haben uns verlassen“. Dank ihr konnte ich neuen Mut fassen und weiter gehen.

Die Wüste ist hart. Ich würde niemandem wünschen, dass er oder sie diesen Weg nach Libyen nehmen muss. Als wir die Wüste das erste Mal durchquerten, brachte uns das libysche Militär zurück. Nach diesem Vorfall ruhten wir uns drei Tage lang aus und versuchten es danach erneut – durch die Wüste, zurück nach Libyen. Bei diesem zweiten Versucht hat uns das Militär zwar nicht aufgegriffen, aber wir hatten nichts, als wir in Libyen ankamen. Nicht einmal Nahrung. Einfach nichts.

Dann wurde meine Tochter in Libyen krank. Sie brauchte eine Bluttransfusion. Ihr Fuss war plötzlich gelähmt. Zu Hause hatte sie schon drei Bluttransfusionen bekommen. Wir wollten ins Krankenhaus in Libyen, aber sie wiesen uns mit der Begründung ab, wir seien schwarz und hätten keine Papiere. Für die Aufnahme meiner Tochter forderte man von mir 500 libysche Dinar (ca. 100 €). Aber ich hatte kein Geld. Schliesslich fuhren wir zurück nach Zawiya [eine Küstenstadt im Nordwesten Libyens], nachdem wir insgesamt von fünf Krankenhäusern weggeschickt worden waren. Auf dem Rückweg im Auto fragte mich meine Tochter: „Mama, warum haben sie mich nicht angenommen? „Ich antwortete: „Ich weiss es nicht.“ Sie sagte: „Das sind keine guten Menschen, die sind verrückt. Ich bin krank und sie haben sich geweigert, mich aufzunehmen.“ Ich sagte: „Ja, aber Gott ist mit uns. Wir werden nach Hause zurückkehren, Gott wird uns helfen.“

Wenig später fuhren wir auf das Meer hinaus. Meine Familie weiss nicht, wo ich jetzt bin. Auf dem Weg hierher habe ich alle meine Telefonnummern verloren. Ich habe alles verloren.

Ich fuhr los, um Hilfe zu suchen – um meine Tochter in Sicherheit zu bringen.

Ich wollte meine Geschichte erzählen, weil meine Tochter alles für mich ist. Ich muss über ihre Krankheit sprechen. Sichelzellenanämie gibt es überall auf der Welt. Sie tötet Menschen, denen es nicht möglich ist, eine Behandlung in Anspruch zu nehmen – so wie es bei uns der Fall war. Als ich mein Kind in meinem eigenen Land ins Krankenhaus brachte, wurde mir gesagt, ich solle drei Leute zur Blutabnahme mitbringen. Wie soll ich denn jedes Mal, wenn sie eine erneute Transfusion benötigt, genügend Blutspender*innen finden? Ich habe zwar die gleiche Krankheit, bin aber Blutgruppe 0 – ich kann meiner Tochter also nicht mein eigenes Blut spenden. Wenn eine Mutter die gleiche Blutgruppe wie ihr Kind hätte, dann könnte sie es retten. Aber da ich nicht die gleiche Blutgruppe wie meine Tochter habe, ist das nicht möglich.

„Néné, du darfst nicht weinen. Wenn du weinst, werde ich weinen. Wenn ich weine, werde ich krank.»

Als ihr kamt, um uns von dem kleinen Boot zu retten, fing ich an zu weinen. Meine Tochter sagte zu mir: „Néné, weine nicht. Wenn du weinst, weine ich auch. Wenn ich weine, werde ich krank.“ Ich sagte: „Lass mich weinen. Gott hat meine Gebete erhört. Es ist der derselbe Gott, den ich um Kraft für die Bekämpfung deiner Krankheit bitte. Um mir zu helfen. Ich muss weinen“. Sie antwortete, dass ich nicht weinen soll. Dass sie bei mir ist.

***
Text: aufgezeichnet von Laurence Bondard, Communication Officer auf der Ocean Viking, am 23.03.2021
Fotonachweis: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE

Letzte
News