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Aya* ist 22 Jahre alt und stammt von der Elfenbeinküste. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter wurde sie am 19. Februar 2020 in internationalen Gewässern vor der Küste Libyens gerettet.

Triggerwarnung: Dieser Bericht enthält Beschreibungen physischer und sexualisierter Gewalt

„Ich war die meiste Zeit zwischen vier Wänden eingesperrt und bin kaum rausgegangen. Ich lebte hauptsächlich in Zawiyah und Bani Walid. Dort gehen afrikanische Frauen mit dunkler Haut selten nach draussen. Meistens sagen die Leute, wenn man nicht aufpasst, d.h. wenn man hinausgeht, entführen sie dich, um dich zu verkaufen, schicken dich hier und da ins Gefängnis und verlangen Lösegeld. Wenn du kein Geld hast, können sie dich vergewaltigen. Sie können sogar dorthin kommen, wo du wohnst. Sogar Männer werden ausgeraubt. Frauen können sich nicht verteidigen. Selbst wenn du verheiratet bist, wenn Gott an diesem Tag nicht bei dir ist, werden sie dich ausrauben und dich vergewaltigen. Ich wäre fast ein Opfer davon geworden, aber Gott hat mich davor bewahrt. Fast wäre ich vergewaltigt worden.

Es war an einem Donnerstag, wir wollten auf den Markt gehen. Frauen gehen nur montags und donnerstags, an Markttagen, raus. Ich nahm mit zwei Freundinnen ein Taxi. Normalerweise begleiten unsere Männer uns, aber an diesem Tag konnten sie nicht mitkommen. Markttage sind die einzigen Tage, an denen sich Frauen ein wenig entspannen können. Wir sind mit dem Taxi weggefahren, um in die Stadt zu kommen. Aber der Taxifahrer brachte uns nicht zu dem Markt, dem wir ihm genannt hatten. Ich kannte den Weg nicht. Es war meine Freundin, die sagte: „Nein, das ist nicht der richtige Weg. Wo wollen Sie hin? „. Der Fahrer befahl uns still zu sein; er würde uns sonst umbringen. Dann zog er, eine Waffe, eine Pistole, um uns zu erschrecken. Ich glaube, dass er uns eigentlich verkaufen wollte. Aber Gott wollte es nicht; an diesem Tag würde er uns nicht verkaufen. Er forderte Sex mit mir und bedeutete mir auf Englisch: „You, me fuck you“. Ich entgegnete: „Nein, ich bin verheiratet.“ Er antwortete, dass ihm das egal sei und er tun könne, was er wolle. Ich widerholte mein Nein. Er sagte, es gäbe keine Diskussion. Wieder sagte ich „Nein, ich bin verheiratet, meine Tochter ist bei mir“. Er erwiderte: „Selbst wenn deine Tochter dabei ist, mache ich, was ich will.“ Wenn er mit mir Sex haben wolle, würde er ihn auch bekommen. Ich begann zu beten, zu beten, zu beten. Alle Götter, die ich kenne, rief ich an diesem Tag an. Ich betete, dass es nicht passieren würde. Es war nicht leicht. Aber eine meiner Freundinnen, die hinter ihm sass, zog ihm den Hals zu, dann griffen sie und ich nach seiner Waffe. Wir richteten seine Pistole auf ihn und sagten ihm, dass wir ihn töten würden, wenn er uns nicht an den richtigen Ort fahren würde. Das war nicht leicht. Er hatte irgendwo ausserhalb geparkt; wir kannten den Ort nicht einmal, aber Gott machte es möglich, dass wir ihm drohen konnten und er uns dorthin zurückbrachte, wo wir eingestiegen waren.

Selbst wenn man für libysche Familien arbeitet, ist es nicht einfach. Siehst du meine Hand? Sie ist in Libyen verletzt worden, alle meine Finger. Ich habe als Haushälterin gearbeitet. Aber wenn einer ihrer Söhne mit dir schlafen will – und oft will sogar der Vater mit dir schlafen -, wenn du das nicht akzeptierst, wirst du nicht bezahlt. Dein Geld für einen ganzen Monat steht dann auf dem Spiel. Ich habe bei zwei Familien gearbeitet – es war jedes Mal die gleiche Situation. Ich habe mich immer geweigert; das ist keine Frage des Geldes! Aber sie machen dir Angst.

Mein Mann hat auf dem Bau gearbeitet. Sein Chef war ein netter Mensch. Er gab ihm eine Karte, die es ihm ermöglichte, sich frei zu bewegen, zur Arbeit zu gehen und zurückzukommen. Wenn die Polizei ihn festnahm, zeigte er seine Karte und die Polizei liess ihn gehen. Trotzdem wurde er mehrmals entführt. Seine Karte schützte ihn vor der Polizei, aber nicht vor irgendwelchen Banditen. Dies ist mein dritter Versuch, über das Meer zu fliehen. Die beiden ersten Male wurden wir von den Libyern [Anmerkung der Redaktion: die libysche Küstenwache] aufgegriffen und in ein Gefängnis gebracht. Meine Tochter war zwei Jahre und ein paar Monate alt.

In Libyen sagt man: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.

Im Gefängnis müssen Frauen mehr bezahlen, damit sie rausgehen können. Sie wissen, dass die Frauen Angst haben und nicht weglaufen können, vor allem wenn sie ein Kind bekommen, während Männer eher in der Lage sind, zu fliehen.

Selbst das Waschen ist Aufgabe der Männer. Sie sagen dir, dass du sich ausziehen sollst, ganz nackt, spritzen mit Wasserschläuchen und nennen es waschen. Frauen werden in eine Ecke gebracht, wo sie manchmal sogar von zwei bis drei Personen gleichzeitig vergewaltigt werden. Dann werfen sie sie zurück in eine Zelle. Ich habe gesehen, wie Frauen gingen und zurückkamen. Stell sie dir vor: Sie wurden zerstört, wollten sich umbringen, hatten ihre Würde verloren. Das ist sehr, sehr schwer mit anzusehen. Und es ist sehr beängstigend. In Gefängnissen sind Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Und oft wollen sie es mit der gleichen Frau tun… damit es dasselbe wie gestern ist.

Eines Tages haben sie ein Baby herausgegriffen. Sie schlugen die Mutter. Schlugen sie, schlugen sie, schlugen sie. Angeblich brauchte sie nur ihre Eltern anzurufen, um das geforderte Lösegeld zu überweisen. Aber sie hatte keine Eltern, die ihr Lösegeld zahlen konnten, und sie hatte keinen Ehemann. Also nahmen sie ihr Baby, gruben ein Loch, steckten das Kind hinein und begannen, ihm Sand auf den Kopf zu schütten. Das Kind schrie, weinte, weinte, weinte, weinte. Nach 10 Minuten holten sie das Kind wieder heraus und brachten es zu seiner Mutter.

Ein anderes Mal begegnete ich mit einer Frau zusammen, deren Gesicht völlig verbrannt war, ihre Hand, ihre Arme, alles war verbrannt. Sie hatte auch ein Kind. Aber sie hatten keine Gnade. Wenn du dort kein Geld hast, stirbst du.

Um aus dem Gefängnis zu kommen, riefen mein Mann und ich ältere Brüder in unserem Heimatland an, unsere Väter. Der ältere Bruder meines Mannes schickte uns Geld, damit das Gefängnis verlassen konnten. Unsere Familien legten alle zusammen, um die Lösegelder bezahlen zu können.

Gott sei Dank ist es vorbei. Gott sei Dank ist es vorbei! Gott sei Dank ist es vorbei … Libyen ist ein Alptraum.”

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Interview: Laurence Bondard, Communication Officer an Bord der Ocean Viking // Februar 2020
Photo credits: Anthony Jean / SOS MEDITERRANEE
*Der Name wurde geändert, um die Anonymität der Geretteten zu wahren.

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