DATUM

Obwohl die zivile Seenotrettung vor zahlreiche Herausforderungen gestellt wurde, konnten wir dank eurer Unterstützung im letzten Jahr 2.505 Menschen retten und uns weiter für die Einhaltung geltendes See- und Menschenrechts einsetzen. Vielen Dank, dass ihr uns bei dieser Arbeit unterstützt! 

Nachdem die Ocean Viking zu Beginn des Jahres 2022 für zwei Wochen im Hafen von Trapani, Italien, festgesetzt wurde, konnten wir im Februar 2022 wieder Kurs auf das zentrale Mittelmeer nehmen. In neun Rettungsmissionen kamen die Teams an Bord 2022 2.505 Menschen in Seenot, darunter 272 Frauen und 746 Minderjährige, zu Hilfe.

Die schmerzhafte Realität im zentralen Mittelmeer ist jedoch, dass noch immer Mittel zur Seenotrettung fehlen und für zu viele Menschen jede Hilfe zu spät kommt. 1.377 Tote zählt die Internationale Organisation für Migration im Jahr 2022. Die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher, denn immer wieder verschwinden seeuntüchtige Boote ohne Zeugen.

Zusätzlich wurden fast 24.000 Menschen von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gezwungen, wo ihnen Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Ausbeutung drohen.

Die zivile Seenotrettung wird weiterhin auf politischer Ebene erschwert. Noch immer gibt es im zentralen Mittelmeer keine flächendeckende, staatlich organisierte Seenotrettung. Auch 2022 mussten aus Seenot gerettete Menschen wieder tage- und wochenlang auf Rettungsschiffen ausharren, bis ein sicherer Hafen zugewiesen wurde, in dem sie an Land gehen durften.

Dieses Hinhalten, mit oft dramatischen Auswirkungen für die Überlebenden an Bord, gipfelte im Oktober 2022 in einem traurigen Rekord: 20 Tage lang musste die Ocean Viking auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten. Schließlich musste die Ocean Viking nach Frankreich fahren, mehrere Tage von unserem Einsatzort entfernt, damit die fast drei Wochen zuvor geretteten Männer, Frauen und Kinder endlich von Bord gehen konnten.

Auch im neuen Jahr setzen wir weiter alles daran, Menschen im zentralen Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten und auf ein Ende der humanitären Krise vor den Toren Europas hinzuarbeiten.

Was wir dieses Jahr auf der Ocean Viking erlebt haben und welche Momente uns Mut und Kraft gegeben haben, wollen wir in diesem Jahresrückblick mit euch teilen.

 

Januar

Zwei Wochen dauerte die administrative Festsetzung der Ocean Viking durch die italienischen Behörden im Januar. Im Hafen von Trapani bereitete sich das Team an Bord in der Zeit auf den kommenden Einsatz vor, um bereit zu sein, sobald das Schiff wieder auslaufen durfte.

 

Februar

Am 9. Februar legte die Ocean Viking zu ihrem ersten Einsatz des Jahres im zentralen Mittelmeer ab. Zwischen dem 12. und 14. Februar rettete das Team an Bord in fünf Rettungen in unter als 36 Stunden 247 Menschen aus Seenot. Während sich das Wetter verschlechterte und viele der Überlebenden seekrank wurden, mussten sie mehrere Tage auf die Zuweisung eines sicheren Hafens warten.

 

März

Am Morgen des 24. März entdeckte die Crew durch ihre Ferngläser ein seeuntaugliches Schlauchboot mit 30 Menschen an Bord. Alle konnten sicher an Bord der Ocean Viking gebracht werden. Am nächsten Tag wurden bei einem schwierigen fünfstundigen Einsatz unter zunehmend gefährlichen Wetterbedingungen weitere 130 Menschen von einem völlig überfüllten Schlauchboot gerettet werden. Zwei Menschen starben während der Überfahrt, ihre Leichen wurden auf dem Schlauchboot aufgefunden. Die Namen der jungen Männer, die die Überfahrt nicht überlebten, waren Selif und Mascad, und wir wollen sie nicht vergessen. Oftmals gibt es keine Zeugen und niemanden, der den Familien der Verstorbenen Gewissheit darüber geben kann, was mit ihren Liebsten passiert ist.

 

April

295 Menschen konnte das Team auf der Ocean Viking in vier Operationen zwischen dem 24. und 27. April retten. An Bord erzählten einige Überlebende, dass in der Nacht vor der Rettung 15 Menschen aus dem überfüllten Boot ins Wasser gefallen waren. Nur drei schafften es zurück an Bord, die anderen 12 gelten als vermisst. Wir müssen davon ausgehen, dass sie ertrunken sind. Eine weitere Tragödie im zentralen Mittelmeer. Wir teilen die Trauer der Überlebenden, die Angehörige auf See verloren haben.

 

Mai

Zwei Menschen mussten im Mai aus medizinischen Gründen von der Ocean Viking evakuiert werden: Ein junger Mann, der in Libyen schwere Verletzungen erlitten hatte, sowie eine im achten Monat schwangeren Frau mussten dringend in einem Krankenhaus an Land versorgt werden. Am 19. Mai hatte unser Team 158 Menschen retten können, am 22. und 23. Mai wurden in einer dritten und vierten Operation weitere 139 Menschen sicher an Bord der Ocean Viking gebracht.

 

Juni

Zwischen dem 24. Juni und dem 4. Juli wurden in acht Rettungen 306 Menschen sicher an Bord der Ocean Viking gebracht und versorgt. Unter den Geretteten befanden sich 53 Frauen, 87 unbegleitete Minderjährige, sieben Kinder unter 4 Jahren und ein 9 Monate altes Baby. Nachdem einige der Überlebenden ganze 13 Tage darauf warten mussten, einen sicheren Ort zugewiesen zu bekommen, konnten am 6. und 7. Juli alle Geretteten in Pozzallo, Sizilien, von Bord gehen.

 

Juli

Nach einigen Trainingstagen auf dem Weg ins Einsatzgebiet kam unsere Crew am 24. Juli in drei Rettungen 268 Menschen, darunter über 100 unbegleiteten Minderjährigen, zu Hilfe. Am Tag darauf konnten in zwei weiteren Einsätzen 119 Menschen gerettet werden. Trotz der Bemühungen, dass die 387 Frauen, Männer und Kinder an Bord zu versorgen, litten viele aufgrund der Hitze unter Dehydrierung.

 

August

Zwischen dem 25. und 27. August kam unser Team in 10 Rettungen in weniger als 60 Stunden insgesamt 466 Menschen zu Hilfe. Ein neuer Rekord: noch nie haben wir so viele Rettungen in so kurzer Zeit durchgeführt. Unter den Geretteten war auch ein drei Wochen altes kleines Mädchen. Die Anzahl medizinischer Fälle war überwältigend, von Erschöpfung, Dehydrierung und unbehandelten Infektionen zu emotionaler Not, Anzeichen von Gewalt während der in Libyen verbrachten Zeit sowie chronischen Erkrankungen. Nach zwei medizinischen Evakuierungen und bis zu elf Tagen auf der Ocean Viking konnten die 459 an Bord verbliebenen Überlebenden am 4. September endlich in Taranto, Italien, an Land gehen.

 

Oktober

Zwischen dem 22. und 26. Oktober kam unsere Crew in 6 Rettungen insgesamt 234 Menschen zu Hilfe. In einer erneuten Instrumentalisierung der Seenotrettung wurden die Geretteten auf der Ocean Viking daraufhin zum Spielball europäischer Politik: Der zu dem Zeitpunkt gerade neu eingesetzte italienische Innenminister gab am 25. Oktober Berichten zufolge eine Mitteilung an unter anderem Polizei und Küstenwache, sein Ministerium prüfe das Verhalten ziviler Rettungsschiffe und die Möglichkeit, diesen Schiffen die Einfahrt in italienische Hoheitsgewässer zu verwehren. Es hieß außerdem, das italienische Außenministerium habe den Flaggenstaaten der zu dem Zeitpunkt im Einsatz befindlichen zivilen Rettungsschiffe, Deutschland und Norwegen, in einer Verbalnote mitgeilt, dass die Seenotrettungsorganisationen sich nicht an geltende Regeln hielten.

Obwohl wir keine offizielle Mitteilung, kein Dekret und keine Anweisungen erhielten, war die Ocean Viking länger als je zuvor ohne sicheren Hafen auf See blockiert. 

Nach 18 Tagen des Wartens und angesichts des Schweigens Italiens sah sich die Crew an Bord gezwungen, Kurs auf Frankreich zu nehmen. Der physische und psychische Gesundheitszustand der Geretteten hatte sich so verschlechtert – mit akutem psychischem Stress und zunehmenden Anzeichen von Angst, Depression, Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit – dass der humanitäre Notfall keinen weiteren Aufschub erlaubte. Nach 21 Tagen an Bord konnten die nach einer medizinischen Evakuierung verbliebenden 230 Geretteten endlich in Toulon, Frankreich, an Land gehen. Diese Wartezeit war die längste Blockade, die wir je erlebt habe.

 

November

Mit der Unterstützung von United4Rescue konnten auf der Ocean Viking während eines Werftaufenthalts in Marseille ein Davit für ein drittes Rettungsschnellboot installiert und die Bordklinik saniert werden. Durch den Davit können Rettungsboote auch bei schwierigen Witterungsbedingungen schneller und sicherer zu Wasser gelassen werden. Auch die Instandhaltungsmaßnahmen in der Bordklinik waren dringend nötig, denn bei der medizinischen Versorgung Überlebender nach der Rettung wird die Klinik stark beansprucht. Allein von Januar bis November hat das medizinische Team auf der Ocean Viking mehr als 2.000 Konsultationen in der Bordklinik durchgeführt.

 

Dezember

In der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember kam die Ocean Viking 113 Menschen zu Hilfe. Unmittelbar nach der Rettung wurde Ravenna, Italien, als Hafen für die Anlandung der Geretteten zugewiesen, 900 Seemeilen und vier Tage Fahrt vom Einsatzort entfernt. Bei aller Erleichterung, dass die Geretteten am 31. Dezember an Land gehen konnten und dort hoffentlich die Versorgung erhalten, die sie brauchen, machten wir uns große Sorgen um all jene, die 1800 km südlich dort in Seenot sein könnten, wo kein anderes humanitäres Rettungsschiff im Einsatz war.

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